Eine Wunderwelt in großer Gefahr

Als unser KIEL LOKAL-Reporter die Vorkriegs-Fernmeldebaracke betritt, in der seit 35 Jahren der Modelleisenbahn-Club (MEC) residiert, weiß er gar nicht, wohin er zuerst schauen soll. Hier gibt es alles, was das Herz eines Eisenbahnfans einen Takt schneller schlagen lässt. Doch das Technik-Idyll ist bedroht.

Den größten Teil des Saals nimmt eine riesige H0-Anlage ein, auf der knapp die Hälfte der derzeit vorhandenen etwa 75 Züge gleichzeitig fahren können.

Bis zu 75 Züge in Aktion
Die große Anlage stellt eine fiktive Landschaft mit Stadt, Dorf, Industrie, Wald und Weinbergen dar, und zwar in Epoche III, das ist der Zeitraum von den 50er-Jahren bis zum Ende des Dampflokzeitalters Anfang der 70er.
Sogar eine Straßenbahn fährt hier, die ein wenig an die letzte Kieler Straßenbahn erinnert und eine Brücke überquert, die der früheren Gablenzbrücke nachempfunden ist. Am anderen Ende der Anlage gibt es eine Kleinbahn auf Schmalspurgleisen.
Die meisten Objekte der Eisenbahnlandschaft sind völlig fiktiv, einige jedoch sind Kopien von tatsächlich einst existierenden Objekten, die den Originalen bis ins kleinste Detail nachgebaut sind.

Amerika in Spur N
Weiter vorne im Raum ist eine amerikanische Landschaft in Spur N aufgebaut, eine Modulanlage unter dem Motto Chicago, die normalerweise von Ausstellung zu Ausstellung reist und deshalb zerlegbar ist. Dank des noch kleineren Maßstabs passt sehr viel mehr Wagenmaterial auf das Gleis, sodass sich ganz originalgetreu amerikanisch gigantische Züge durch die liebevoll gestaltete Steppenlandschaft winden können.

Nachbau vom Scheerhafen
Ein weiteres Sahnestück kann leider gerade nicht besichtigt werden, die digitale Modulanlage, die den alten Scheerhafen detailgetreu im Maßstab 1:87 wiederauferstehen lässt und nun ordentlich zerlegt in der Ecke schlummert. Schließlich gibt es noch einen kleinen Wunderkasten zu bestaunen, eine preisgekrönte Minianlage, so klein wie ein Puppentheater, die das Vereinsmitglied Burkhard Leo gebaut hat. Dargestellt ist eine amerikanische Straßenszene mit Hochbahn und komplexer Szenerie auch hinter den beleuchteten Fenstern, sogar mit wechselnder Leuchtreklame und Lichteffekten für verschiedene Tages- und Nachtzeiten. Weitere spannende Bauvorhaben liegen brach. Das Geld fehlt.

Mehrstöckiger Schattenbahnhof
Im Nebenraum warten in einer mehrstöckigen Gleisharfe im sogenannten Schattenbahnhof die Züge auf ihren Einsatz. Vereinsmitglied Holger Barberg hat die Lupe umgeschnallt und repariert routiniert eine kleine Lokomotive. Christopher Fischer managt den Schattenbahnhof mit wenigen Handgriffen am Gleisbildstellwerk, nachdem er stolz den Fahrplan-Rechner vorgeführt hat. Hier werkelt noch PC-Technik unter MS-DOS, die einfach nicht aufhören will zu funktionieren. Hier wird ein Phänomen deutlich, von dem in ähnlicher Weise auch die große Bahn betroffen ist: Die Technik ist hochwertig und hält ewig.

Technik stößt an Grenzen
Christopher Fischer und MEC-Geschäftsführer Jürgen Mißfeld haben noch viel mehr zu zeigen: die raumhohen Schränke mit Schalt-Elektronik, Relais und Energieversorgung, hinter deren Blechtüren Leuchtdioden bedeutungsvoll blin-
ken, die selbst gebaute Kurvendoppelkreuzungsweiche, die es so niemals im Handel zu kaufen gäbe, Modellhäuser in unvorstellbarer Detailtreue, aber auch die vielen offenen Wunden, Dinge, die „man heute so nicht mehr machen würde“, wie Mißfeld zugeben muss. Die Elektronik hat die letzten 35 Jahre gut überstanden. Sie ist rustikal und von Eingeweihten gut wartbar.
Einzelne Teile der Anlagen, so z. B. Signalsteuerung und Weichen sind teilweise digitalisiert, ebenso einzelne Schienenstränge, auf denen Züge nun ganz modern computergesteuert fahren. Die beiden großen Anlagen laufen ansonsten mit analoger Technik.
Teile der Anlage sind in den Augen der Mitglieder überarbeitungswürdig, weil es z. B. heute viel echter aussehende Bäume gibt oder weil die Technik mancherorts unwiderruflich an ihre Grenzen stößt. Es gibt immer etwas zu tun. Eine Eisenbahnanlage ist niemals fertig.

Regelmäßige Treffen am Mittwochnachmittag
Es ist Mittwochnachmittag. Nach und nach kommen die Aktiven herein und widmen sich ihren Projekten. Ihre Begeisterung für die kleinen Züge ist auch nach vielen Jahren Vereinszugehörigkeit noch immer wie am ersten Tag. Diese Männer brennen für ihr Steckenpferd.
Jüngster Hobby-Eisenbahner mit 14 Jahren ist Helge Schlötels. Während die Gleichaltrigen Computerspiele machen, Fußball spielen oder einfach ihre Zeit mit dem Smartphone totschlagen, hat ihn das Modellbahnfieber gepackt. Mit geschickter Feinmotorik rückt er heute in der riesigen Eisenbahnanlage einige Teile zurecht, damit der Bahnverkehr reibungslos fließen kann.
Später bedient er kenntnisreich das Gleisbildstellwerk, das sich hinter einer Fassadenreihe von detailliert gestalteten Modellhäusern verbirgt und schickt einige Züge auf die Reise. Dank seiner Mitarbeit im Modellbahner-Team konnte er bereits umfangreiche handwerkliche und technische Kenntnisse von den „Alten Hasen“ lernen. Nun wird er zum Mädchen für alles. Das Leuchten in seinen Augen ist dasselbe wie bei den mehr als 60 Jahre älteren Vereinsfreunden.

Sieben bis acht Personen steuern die Anlage
Wenn Besuchertag ist und so viele Züge auf den Gleisen unterwegs sind, wie nur möglich, dann gerät die Elektronik an ihr Limit und die Heizung im Versorgungsraum kann abgedreht werden. An einem solchen Tag ist volle Mannschaftsstärke gefragt. Mindestens sieben bis acht Personen werden benötigt, um die riesige Anlage zu bedienen und unter Kontrolle zu halten.
Dann bringen die Vereinsmitglieder ihre eigenen Züge mit. Und so rauscht zur Freude der Gäste schon mal ein ICE durch die Anlage, vorbei an einem dampfbetriebenen Personenzug aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, der gemächlich von Station zu Station zuckelt. Welch ein Augenschmaus!

Derzeit keine Besuchertage
Aber leider gibt es schon im zweiten Jahr in Folge keine Besuchertage mehr. Wegen Corona kann sich hier niemand mehr in der faszinierenden Miniaturwelt drängeln. Und so kommen auch keine Eintrittsgelder mehr herein – das in jedem Jahr eine fest eingeplante Größe war und die meisten Investitionen überhaupt erst ermöglicht hat.
„Wenn das mit Corona noch so weitergeht, weiß ich nicht, ob wir das überstehen“, meint Geschäftsführer Jürgen Mißfeld. Das Damoklesschwert der Zahlungsunfähigkeit schwebt bedrohlich über dem Verein von ca. 30 Idealisten, die nicht wissen, ob sie im nächsten Jahr noch die Miete werden zahlen können.

Nachwuchs dringend gesucht
„Ich werde vielleicht in ein paar Jahren aufhören“, sagt Mißfeld, dem die 81 Lenze absolut nicht anzusehen sind. Der Kreis der Aktiven ist überaltert. Es wird dringend junger Nachwuchs benötigt.
Mit dem Schüler Helge ist ein Anfang gemacht. Was ihm die Alten weitergeben, ist unbezahlbar. Wer seinen Horizont erweitern möchte, wer Fähigkeiten in Elektrik, Elektronik und Digitaltechnik, in Modellbau, Feinmechanik, Programmierung und vielem mehr erwerben möchte und zudem Freude an der elektrischen Eisenbahn hat, sollte nicht zögern und einfach mal hingehen. „Jeder, der Interesse hat, ist willkommen“, sagt Mißfeld und fügt nachdenklich hinzu: „Wir müssten einen Sponsor haben.“ Und wir möchten hinzufügen: Vielleicht finden auch mal Frauen und Mädchen den Weg zu den Modellbahnern. Denn warum sollen immer nur die Jungs Spaß mit der elektrischen Eisenbahn haben?
Die Mitglieder des Vereins treffen sich jeden Mittwoch zwischen 15 und 18 Uhr im Vereinsheim Pestalozzistraße 79. Kontakt und weitere Infos: www.mec-kiel.de.

Text: Mollenhauer; Foto: ©Mollenhauer