Einiges war früher doch besser!

Abzweig Töpfergrube: Wenn diese Weiche gestellt wurde, verhieß das nichts Gutes für den Wagen, der hier abbog. Am Ende wartete der Schrottplatz. Fotos: Privatarchiv

Straßenbahn im Kieler Süden

Wenn Sie sich an die Linie 4 lebhaft erinnern können, dann sind Sie schon über 45 Jahre alt. Doch um die Straßenbahnen, die auch durch den Kieler Süden rumpelten, bewusst miterlebt zu haben, müssen Sie wenigstens etwa 60 Lenze auf der Uhr haben.

Das Gute daran: Zeitzeugen gehen spätestens in diesen Jahren in den Ruhestand. Plötzlich ist wieder Zeit da, Schätze aus einem langen Leben werden gehoben und manch ein fast in Vergessenheit geratenes Privatarchiv öffnet sich wieder. Und zum Vorschein kommen mit etwas Glück einzigartige Fotos und Erinnerungen.

Die Fakten und Bilder dieses Beitrages verdanken wir einem Straßenbahnfreund, dessen Lebenshobby die beigefarbenen Straßenbahnen in Kiel sind und der sich über die Jahrzehnte ein riesiges Archiv an Fotos und Utensilien angelegt hat. Gern teilt er sein umfassendes Wissen mit der KIEL LOKAL-Leserschaft.

Was ist geblieben von den Straßenbahnen im Kieler Süden? Die Wendeschleife in Schulensee an der Eiderbrücke fällt uns ein – mit der alten Wartehalle, die heute eine kleine Gastronomie beherbergt.

Dass die Schienenstücke, die am nahen Eiderwanderweg als Zaunpfosten benutzt werden, etwas mit der Straßenbahn zu tun haben, ist unwahrscheinlich. Sie stammen wohl eher von einer Feldbahn. Gleisreste sind nicht mehr auffindbar. Die Linie 1 verlief durch die Hamburger Chaussee und endete in der Wik, wo die Wartehalle heute vor sich hin rottet.
Möglicherweise ist der eine oder andere der Mauerhaken erhalten, an denen die Oberleitung zwischen erstem und zweitem Stock an den Fassaden hing.

Moderner Großraumwagen in der Wendeschleife Schulensee. Wo wir heute den Eider-Wanderweg vorfinden, kreischte bis 1967 die „Eins“ durch die Kurve.

Alte Trassen können wir aber noch erahnen. Der breite Seitenstreifen im Hasseldieksdammer Weg – heute Rad- und Gehweg – markiert die Trasse der Linie 2 (bis 1963 Linie 7). Die kreisrunde Wendeschleife ist heute ein Parkplatz, und die frühere Wartehalle beherbergte noch viele Jahre lang einen Kiosk.

Die Hauptaufgabe der Linie 2 am Sonntag war es, dem Kilia-Sportplatz und dem Städtischen Krankenhaus die Besuchermassen anzuliefern. Dazu kamen jede Menge Kleingärtner auf dem Weg zu ihrer Scholle. Die Bahnen waren dermaßen überfüllt, dass zahlreiche Einsatzwagen in den Fahrplan eingeschoben werden mussten.
Die Strecke war allerdings weitgehend eingleisig. Bei der damaligen Signaltechnik passierte es dann oft, dass von beiden Seiten Bahnen gleichzeitig in den langen eingleisigen Abschnitt fuhren. Die Folge war, dass die Züge sich trafen und einer umkehren musste, ein herrliches Spektakel, das die örtliche Jugend natürlich abpasste und wobei sie dann feixend danebenstand, wenn der Schaffner schwitzend den Notführerstand der überfüllten Bahn in Betrieb setzte.

Noch eine weitere Besonderheit hatte die Linie 2. Sie durfte das Gütergleis am Mühlenweg (heute Veloroute 10) unter ganz bestimmten Bedingungen überqueren. Dazu musste die Bahn anhalten, der Schaffner aussteigen und sicherstellen, dass sich garantiert kein Güterzug näherte, und dann dem Fahrer das Okay geben. Dazu war extra ein Schild montiert: „Halt! Schaffner geht vor!“

Auch Hassee hatte eine eigene Straßenbahn – zuletzt die Linie 3. Sie endete auch am Bahnübergang. Die Kieler Verkehrs-AG hatte die Verlängerung über den Hasseer Bahnhof bereits fest eingeplant und zwölf Großraumwagen eingekauft. Doch auch hier sagte die Bundesbahn völlig unerwartet „Nein“.

Kleines Schmankerl am Rande: Die Endstation in Hassee hatte keine Wendeschleife. Hier konnten die brandneuen Großraumwagen also nicht wenden. Darum hätten sie einen zweiten Führerstand und Türen auf beiden Seiten benötigt. Das hatten sie leider alles nicht. Wohin also damit?

Die Wahl fiel auf die Linie 1. Doch die hatte oft so viele Leute abzuholen, dass eine Garnitur nicht genug Plätze bot. So wurde beschlossen, bei Bedarf zwei von den Großraumwagen zu koppeln. Leider fiel dabei auf, dass die Kupplungen nicht mitbestellt worden waren und jetzt teuer nachgerüstet werden mussten. Was dann auch noch auffiel: Zu zweit gekoppelt, waren aus den zwölf Großraumwagen nur noch sechs Züge herausgekommen. Es wurden also wieder viele alte Zweiachswaggons reaktiviert.

Abzweigung Töpfergrube

Das leitet uns über zu einer ganz unerwarteten Abzweigung des Gleises von der Hamburger Chaussee in die Töpfergrube. Nanu, wundern wir uns, was wurde da an den ÖPNV angebunden? Wer dem Gleis folgte, dem wurde bald klar: Hier wurde das Schicksal so manches Straßenbahnwaggons besiegelt. Wo heute die Gaspumpe weithin hörbar vor sich hin röhrend Deponiegas aus der Altlast absaugt, war bis in die 60er-Jahre ein Müll- und Schrottplatz. Waggons, derer sich die Kieler Verkehrs-AG entledigen wollte, wurden hier über das Gleisende hinausgeschoben und dann sich selbst überlassen und nicht selten einfach abgefackelt. Der Umgang mit der Umwelt war vor 60 Jahren noch etwas rustikaler.
Wenn wir hier graben würden, wer weiß, wie viel Straßenbahn-Rollmaterial hier wieder zutage käme?

Verschrottung am Müllplatz Töpfergrube

Unser Privatarchivar hat übrigens auch noch Fahrpläne aus den 60er-Jahren aufbewahrt. Nun ist der Fahrplan, wie wir täglich erleben, das eine, die real fahrenden Verkehrsmittel das andere. Aber im Großen und Ganzen wird der vorgegebene Takt eingehalten, damals wie heute.

Die Menschen in der hinteren Hamburger Chaussee plagen sich seit 2023 damit herum, dass die KVG die Linien 12 und 13 hier eingestellt hat. Heute kommen auf diesem Abschnitt nur noch Überlandbusse der Autokraft vorbei – in der Hauptverkehrszeit etwa alle 15 Minuten. Am Wochenende wird der Takt bis auf zwei Fahrten pro Stunde ausgedünnt.
Ein Blick in den alten Fahrplan der „Eins“ öffnet uns ein Fenster in bessere Zeiten: Die Bahn kam alle fünf Minuten. Zusätzlich verkehrten Einsatzzüge – sodass praktisch auf Sicht hintereinander hergefahren wurde. In den Nebenzeiten kam noch mindestens alle 6–10 Minuten eine Bahn! Die Anbindung hat sich um den Faktor drei verschlechtert – für einen ÖPNV-Enthusiasten, der die Straßenbahnzeit erlebt hat, ein Rückfall in die Steinzeit!
Die Linie 3 fuhr übrigens teilweise im Vierminutentakt, auch das ist Faktor drei, verglichen mit heute.

Über weite Strecken teilten sich die übrigen Verkehrsteil-nehmer bei Bedarf dank überbreiter Fahrbahn problem-los den Platz mit der Straßenbahn. Hier die Kreuzung Hamburger Chaussee / Diesterwegstraße

Die Älteren werden sich erinnern, dass den Kielern die Straßenbahn mit der angeblich viel höheren Leistungsfähigkeit der Busse madig gemacht wurde. Außerdem sei die Straßenbahn ein Verkehrshindernis gewesen. Es war die Zeit der entfesselten Auto-Euphorie, als mit vollem Ernst vorgeschlagen wurde, die Hälfte des Kleinen Kiels zugunsten eines Großparkplatzes zuzuschütten.
Denn dass die vielen Autos nicht wirklich in die Stadt hineinpassen, das war schon damals klar.

Alte Fotos zeigen: Seinerzeit befuhr die Bahn weitgehend eigene Trassen, kam oft mit nur einem Gleis aus – ein Vorteil, der sich mit den viel breiteren Busspuren kaum wieder einstellen ließ. Dass der Bus die Strecke vom Bahnhof bis Schulensee heute eine Minute schneller schafft als damals die Straßenbahn, ist dem Umstand geschuldet, dass Letztere auf vielen Abschnitten eingleisig unterwegs war, was immer zu kleinen Extra-Wartezeiten führte. Heute würde das anders gelöst.

Dieser winzige Zeitvorteil relativiert sich außerdem schnell, da die Wartezeit an der Haltestelle sich im Durchschnitt um bis zu zehn Minuten verlängert hat. Auch das Platzangebot ist nicht besser geworden. Ein moderner Gelenkbus kann bis zu 100 Fahrgäste befördern – viele stehend, die Bahn konnte bis zu drei Wagen auf der „Eins“ zusammenkoppeln, und dann passten mehr als doppelt so viele Leute rein.
Die Linie 1 ging ihrem Ende entgegen, als der Theodor-Heuss-Ring entstand und das Berücksichtigen der Straßenbahn an den Kosten für eine bahntaugliche Brücke an der Waldwiese scheiterte. Die Mehrkosten wurden damals mit 300.000 DM veranschlagt. Offenbar gab es zu der Zeit andere starke Interessen, die dem Weiterbetrieb entgegenstanden, denn das ist auch zu der Zeit kein Betrag gewesen, der einen ganzen Streckenzweig infrage stellte.

Knapp 54 Jahre war die „Eins“ auf dem Teilstück zwischen Waldwiese und Schulensee unterwegs, bis sie im Januar 1967 stillgelegt wurde. Dasselbe Schicksal ereilte die Linie 2 nur zwei Jahre später, nachdem klar war, dass es mit kostengünstigen Mitteln nicht über den Bahnübergang Has­seldieksdamm hinausgehen würde.

Linie 3 am Hasseer Bahnhof

Mit der gleichen Argumentation war die Linie 3 bereits 1965 verschwunden – pikanterweise nur wenige Monate nachdem der Gleiskörper am Südfriedhof noch einmal aufwendig erneuert worden war. Wenige Jahre vor der Stilllegung bekam die Linie 3 noch Fahrzeuge aus Lübeck, wo die Straßenbahnära schon 1959 zu Ende gewesen war. Zuletzt bestand noch die „Zwei“ im Kieler Süden. Sie erbte die Massen an Waggons – viel zu viele für diese Linie – für zwei Jahre. Dann war hier auch Schluss.

Als die Stilllegung der letzten Straßenbahn im Jahre 1985 bevorstand, bot die Stadt Braunschweig – die auf der gleichen Spurweite noch heute ein Straßenbahnnetz betreibt und kontinuierlich erweitert – den Kielern einen brandneuen Zug zum Probefahren an, damit sie einmal ein „modernes“ Straßenbahngefühl bekommen sollten.

Aber das Ende der Kieler Bahn war mit dem Generalverkehrsplan unabwendbar beschlossen, und so wurde das Angebot zurückgewiesen. Schon in den Monaten vor der Stilllegung wurden Wochenend- und Abendfahrten nach und nach eingestellt und durch Busse ersetzt. Die Benutzerstatistik wies folglich eine nachlassende Nutzung aus, was nur an der „mangelnden Attraktivität“ liegen konnte. Ein starkes Argument, um ein „antiquiertes Verkehrsmittel“ aus dem Weg zu schaffen.

Und wenn Ihnen, liebe Leser, in den letzten Minuten eine Straßenbahn an Ihrem inneren Ohr vorbeigerumpelt ist und Ihnen vielleicht eine nostalgische Träne ins Auge gezaubert hat, dann ist das durchaus beabsichtigt. JM