Von der Notunterkunft zum Kleinod

Wer in Hassee wohnt, kennt sicherlich die beschauliche Backsteinsiedlung mit der volkstümlichen Bezeichnung „Klein Moskau“, die in geschützter, zweiter Reihe an der Rendsburger Landstraße 143–155 liegt.

Auf engem Raum gruppieren sich hübsche kleine Reihenhäuser eng um den zentralen Platz. Alles ist grün zwischen den roten Gebäuden. Auf zwei Spielplätzen können die Kinder toben und buddeln. Es gibt sogar einen Bolzplatz. Die Kinder haben alle Freiheiten, denn die Autos müssen draußen bleiben. An beiden Enden befinden sich Kinderbetreuungseinrichtungen: der „Schlupfwinkel“ und die Betreute Grundschule Theodor-Heuss. Welch ein Idyll!

Dass alles so nett bleibt, dazu trägt Hausmeister Bernd Hansen bei, seit nunmehr 30 Jahren. Er deutet auf das Gebäude hinter seinem Rücken: „Hier bin ich geboren.“ Heute – 64 Jahre später – wohnt Hansen noch immer in derselben Siedlung. Nun steht er schon bald am Ende seines Berufslebens als Hausmeis­ter von „Klein Moskau“.
Ein weiterer langjähriger Bewohner ist Herbert Westphal, der schon seit 50 Jahren hier lebt. KIEL LOKAL hätte gerne ein paar alte Fotos aus seinem Fotoalbum gesehen, aber dafür ist es leider zu spät. „Das habe ich alles längst weggeschmissen. Ich konnte doch nicht wissen, dass die mal so wertvoll werden.“ Zum Glück hat Hausmeister Hansen ein ganzes Album mit alten Originalfotos.

Herbert Westphal erzählt: „Klein Moskau ist kein schöner Begriff. Die Leute, die hier wohnen, wollen lieber Wohnsiedlung an der Rendsburger Landstraße sein.“ Er ergänzt: „Bei den Taxifahrern ist es immer noch so drin: Klein Moskau an der Kette.“ Damit ist die schon vor Jahrzehnten durch eine Schranke und später durch ein festes Gittertor ersetzte Kette am Torhaus gemeint. Die Sprache und die Erinnerung in den Köpfen der Menschen hinkt der Realität manchmal lange hinterher.

Der damals abschätzig gemeinte Begriff mit dem Russlandbezug stammt noch aus einer Zeit, als in der Siedlung eher von „Hausen“ als von „Wohnen“ gesprochen wurde. „Klein Moskau“ war verrufen. Das galt allerdings auch für viele andere Wohngebiete. Heute benutzen jüngere Leute den Begriff geradezu liebevoll für dieses idyllische Fleckchen Erde, auf dem es sich offenbar gut wohnen und leben lässt. Es ist eine gute Adresse geworden, wo Menschen sich wohl fühlen.

Wird eine Wohnung frei, gibt es immer eine lange Warteliste. „Mir wollte schon mal einer einen Hunderter in die Hand drücken, damit er eine Wohnung kriegt. Sowas läuft bei mir aber nicht“, macht Hansen klar. Aber das war nicht immer so. Die Siedlung entstand wenige Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg als Antwort auf den massiven Wohnungsdruck durch Armut und Obdachlosigkeit. Die seinerzeit durchweg kleinen Wohnungen boten Unterkunft für Menschen, die an den Rand der Gesellschaft geraten waren. Die Miete kostete anfangs eine Mark pro Tag und war dem Hausmeister bar zu entrichten. Das ging so lange gut, bis eines Tages eine ganze Monatseinnahme abhandenkam. Das aber ist lange vor Hansens Zeit geschehen. Kriminalität ist hier – anders als in früheren Tagen oft unterstellt – kein Thema.
Überhaupt kann sich Hansen an keine schwerwiegenden Ereignisse aus seiner Hausmeisterzeit erinnern. Außer den üblichen Kabbeleien zwischen den auch heute noch recht zahlreichen Kindern gab es wenig Spektakuläres. Einmal ist eine Bratpfanne in einem unbeobachteten Moment in Brand geraten. Das war schon alles.
„Hier achtet jeder auf jeden“, sagt der Hausmeister. Wenn mal jemand länger nicht draußen war, werde schon mal nachgeschaut, ob alles in Ordnung ist. Im Sommer gibt es auch immer wieder nettes Beisammensein im Innenhof. Ein Zusammenhalt sei schon spürbar. „Aber gemeinsame Feste und Veranstaltungen sind schon lange her“, fügt er etwas bedauernd hinzu.

Als nach Ende des Zweiten Weltkriegs rund 12 Millionen Flüchtlinge nach Westen strömten, bekam es auch Kiel mit enormem Zustrom an Wohnungslosen zu tun. Es entstanden mehrere Barackenlager, und in der Wohnanlage wurden zahlreiche Flüchtlinge auf engstem Raum untergebracht.

Nebenan auf Höhe der Gemeinschaftsschule entstand „Klein Leningrad“. Die Flüchtlingskrise ab 1945 war vermutlich auch die Geburtsstunde dieser volkstümlichen Bezeichnungen, denn eine Willkommenskultur gab es damals nicht. Ganz im Gegenteil. Den Menschen aus den ehemaligen Ostgebieten haftete der „Makel“ an, anders zu sein, anders zu sprechen, vielleicht nur ein anderes Plattdeutsch. Manche sprachen aber tatsächlich besser russisch oder polnisch als deutsch.

Die einfachen Unterkünfte in drangvoller Enge begünstigten Verwahrlosung, Krankheit und Verdreckung. Sie leisteten damit den allgegenwärtigen Vorurteilen der übrigen Bevölkerung weiter Vorschub. Mit den „Russen“ und „Polacken“ wollte keiner zu tun haben. Nicht selten mündeten diese Ressentiments und Rivalitäten in gewalttätige Auseinandersetzungen.
Unterdessen herrschten in den Häusern von „Klein Moskau“ unbeschreibliche Zustände. Die Ratten waren ständig präsent und drangen ungehindert durch die nur mit Pappe „isolierten“ Zwischenwände bis in die Schlafstätten vor. Kinder gab es zuhauf. Bis zu 300 lebten hier in der Nachkriegszeit. Die Wohnverhältnisse waren derartig eng, dass sich nicht selten drei Kinder ein Bett teilen mussten.
Als die Wohnsituation sich in Kiel allmählich besserte (z. B. entwickelte das Neubaugebiet Mettenhof Anfang bis Mitte der 70er-Jahre eine enorme Zugkraft), zogen viele Bewohner in bessere Wohnungen. Die Leerstände wurden nach und nach mit Menschen aus noch schwierigeren Verhältnissen aufgefüllt, was die Misere weiter befeuerte. Gleichzeitig wurden die Wohnungen nur notdürftig instand gehalten. An Sanierung dachte niemand.
So ist es nicht verwunderlich, dass es seitens der Politik Bestrebungen gab, diesen Schandfleck verschwinden zu lassen. Jahrelang wurden aber auch Haushaltsmittel zur Rettung beantragt – und immer wieder abgelehnt. Denn der Abriss schien günstiger als eine millionenschwere Sanierung. Die Wohnanlage stand jahrelang auf der Kippe.
Dem engagierten Einsatz einzelner Ratsherren ist letztendlich zu verdanken, dass „Klein Moskau“ nicht niedergerissen wurde, sondern eine weitere Chance bekam. Dazu wurde 1988 ein Arbeitsbeschaffungsprogramm aufgelegt, mit dem eine Reihe von Langzeitarbeitslosen unter fachlicher Anleitung ansässiger Betriebe befähigt wurden, alle wesentlichen Sanierungsarbeiten durchzuführen. So wurden Zug um Zug alle Gebäude entkernt, teilweise gedämmt, neu eingedeckt, Elektrik, Heizung und Wasser modernisiert, Bäder und WCs eingebaut und einige der winzigen Wohnungen mittels Wanddurchbrüchen zu größeren zusammengelegt. Im Zuge dieser Ertüchtigung sind nicht wenige der damaligen Mitarbeiter wieder dauerhaft in Lohn und Brot gekommen.
„Klein Leningrad“ hingegen ist genauso wie die anderen Barackenlager für immer von der Bildfläche verschwunden, auch wenn dieser Prozess teilweise bis in die 1950er-Jahre andauerte und auch im Kieler Süden Menschen bis nahezu 30 Jahre lang ihr Dasein in einfachen Behelfsbehausungen gefristet haben.
Es ist nicht bekannt, wie viele Menschen von Beginn an bis zur Sanierung in der Wohnsiedlung „Klein Moskau“ gelebt haben. Aber sie hatten sogar die Chance auf über 50 Jahre Plumpsklo und Waschbottich. Aber das ist zum Glück Geschichte. JM

Fotos: Carsten Frahm